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Schreiberei

Pauls Platte

Heute ist ein sonniger Tag. Vielleicht der letzte sonnige Tag in diesem Jahr.

Ich sitze in meiner Wohnung im Norden Frankfurts und – anders als sonst – gibt es nicht viel zu tun. Ein gutes Gefühl. Ein ruhiges Gefühl. Normalerweise würde ich jetzt darüber nachdenken, wie ich meinen Tag gestalte. Stattdessen – Stille in meinem Kopf.

Ich setze mich vor meinen Plattenspieler auf den Boden. Er steht im Regal und neben ihm die Schallplatten. Fast alles Bands, die ich selbst nicht kenne, weil mir die Platten geschenkt worden sind. Ich mag die Lieder trotzdem. Wenn ich sie höre, dann fühlt es sich für mich an, als nähme mich jemand an die Hand, um mit mir einen Weg zu gehen, den ich noch nicht kenne. Irgendwie ungewohnt und gleichzeitig mit einem Gefühl der Vorfreude auf das, was da kommt.

Die Haube ist verstaubt und obenauf liegt eine kleine, blau-weiße Eule aus Filz. Sie schaut mich mit ihren großen Augen an. Ich lege die Eule auf den alten Sessel, der neben mir steht. Im Moment liegt dort Peter, einer meiner Kater. Die Eule ist sein Spielzeug und er trägt sie immer zu den schönsten Orten in der Wohnung – findet er. Finde ich auch. Manchmal trägt er sie auch zu mir. Peter freut sich, dass dieses Mal ich ihm seine Eule bringe. Er miaut aufgeregt.

Ich wende mich wieder dem Plattenspieler zu. Die Haube knarrt ein bisschen beim Öffnen. Kurz überlege ich, was ich hören möchte. Dann greife ich, wie immer, einfach in den Stapel. Ich wähle meistens nach Gefühl. An manchen Tagen mag ich dicke Hüllen, an anderen dünne. Gestern fanden meine Finger eine rauhe Hülle. Gar nicht so einfach, denn davon gibt es nicht so viele. Die Platte hieß „I can’t stand the sound“ von Ryan O’Reilly. Genau richtig.

Heute kann ich mich nicht entscheiden. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht wichtig ist, was ich höre. Ein Gefühl von „alles passt – und doch passt nichts“. Ich ziehe also eine Platte aus dem Stapel und nehme sie vorsichtig aus ihrer Hülle, ohne nachzusehen, um wen es sich handelt.

Jetzt erst fällt mir auf, dass noch eine Platte vom letzten Mal auf dem Plattenteller liegt. Sie ist staubig; ziemlich staubig sogar. Ich lasse sie liegen und schalte den Plattenspieler an, senke dann die Nadel in die erste Rille ab. Es knistert laut und die Nadel beginnt zu springen. Ich bin über mich selbst verwundert, weil ich nicht verstehe, warum ich das gerade gemacht habe. Schnell hebe ich die Nadel hoch und stoppe den Motor.

Bevor ich die Schallplatte zurücklege, reinige ich sie noch mit der Schallplattenbürste. Ich mag den samtartigen Stoff. Er ist so künstlich und auf seine Art weich. Deshalb reinige ich die Bürste, in dem ich sie erst an meiner Hose reibe und dann kurz meinen Arm damit streichle. Nur um dieses weiche Gefühl zu spüren.

Ich halte die Platte in meiner Hand und suche ihre Hülle. Aber ich kann sie nicht finden. Mit der einen Hand weiter die Platte haltend, suche ich mit der anderen Hand im Plattenstapel nach der Hülle. Aber sie ist einfach weg. Ich denke: „Das kann nicht sein.“ Sie muss hier liegen. Ich lege die Hüllen nie woanders hin.

Ich wundere mich und denke nach, wie ich die Platte am besten schützen kann. Sie ist so zerbrechlich und bekommt ohne ihre Hülle so leicht Kratzer. Und wenn die Sonne zu sehr darauf scheint, kann sie sich verbiegen.

Auf einmal sehe ich in einem anderen Regalfach ein paar hüllenlose Schallplatten liegen. Mir fällt auf einmal ein, dass ich sie in dieses Fach gelegt habe – dorthin, wo Platten ohne Hüllen hingehören. Ich lege die Platte ohne Hülle zwischen die anderen, damit sie gut geschützt ist. Ohne sie dabei zu verschieben. Bloß keinen Kratzer, denke ich. Dort ist sie gut aufgehoben. Ich bin zufrieden. Auch, wenn ich mich immer noch frage, wie wohl die Hülle verloren gegangen ist. Ich denke darüber nach, finde aber keine Erklärung dafür.

Dann lege ich die neue Platte auf. Sie fühlt sich anders an, aber genauso verletzlich. Deshalb passe ich gut auf, dass die Hülle so liegt, so dass ich sie sehe. Und wenn ich sie gehört habe, stecke ich sie wieder in ihre Hülle.



Ich höre mit Peter zusammen die Musik.

Gestern ist Peters bester Freund Paul gestorben. Eigentlich hätte er noch ein bisschen Leben können – finde ich. Findet Peter auch.

Paul wollte nicht alleine sein. Er suchte noch einmal Nähe. Peter hat ihm sogar seine Eule gebracht. Wir waren einfach mit ihm.

Paul, wir hören dich noch – oft.

Frankfurt am Main, am 03.10.2023

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